Geschichte hören — das gebundene Rubato

von berries
3 min readDec 2, 2020

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Ich möchte hier eine Beobachtung teilen, die sich mit einer vergessenen musikalischen Interpretations-Tradition beschäftigt, dem gebundenen Rubato. Rubare bedeutet stehlen, oder anders gesagt: Die Zeit, die man an einer Stelle wegnimmt, taucht unabhängig (aber nicht willkürlich) an anderer wieder auf: stehlen und geben.

Darunter sind in der Musik Temponuancen, Tempofreiheiten einer Gruppe etwa eines Orchesters bei striktem Einhalten des Tempos einer anderen zu verstehen. Dick de Reus beobachtete das beim Dirigenten Willem Mengelberg, dem musikalischen Freund Gustav Mahlers: «Er modellierte die Rubati mit der linken Hand. Die eine Hand machte dies, und die andere etwas anderes.” (Merke: auch sich von den Nazis nicht Distanzierende waren grossartige Musiker!) Es ist jedenfalls genau das was schon Mozart vom Klavierspiel verlangte, dass nämlich die eine Hand nicht wisse was die andere tut: “Das tempo rubato in einem Adagio, dass die lincke hand nichts darum weiss, können sie gar nicht begreifen. bey ihnen giebt die lincke hand nach.”

Diese Tradition war für Chopin und Liszt, aber auch Debussy, Mahler und noch die Zweite Wiener Schule selbstverständlich, was wir an frühen Tonaufnahmen um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert hören können. Sie ist in der Zeit des Ersten Weltkriegs verloren gegangen, und eine andere Spielart des Rubatos, das viel weiter verbreitete ungebundene (bei dem die Musik einheitlich im Tempo schwankt) spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg.

Ich habe mich also gefragt warum diese Interpretationstradition heute nicht mehr existiert und bin auf politische wie technische Gründe gestossen.

Die KlavierschülerInnen (der perkussive Klavierklang liess sich mit der frühen Wachswalzen-Aufnahmetechnik besonders gut festhalten) der oben genannten Musiker, also insbesondere Joseph Pizarello, Sergey Taneyev, Josef Labor, Theodor Leschetitzky, Severin Eisenberger, Vladimir de Pachmann, Louis Diémer, Guiomar Novaes, Moriz Rosenthal und Etelka Freund sind, wie uns Youtube und Wikipedia zeigen, oft vor dem Ersten Weltkrieg aus Österreich-Ungarn emigriert, viele auch wegen des im 19. Jhds. in Europa grassierenden Antisemitismus. Über all das vergaßen sie offenbar ihr freies Rubato- Spiel.

Während der Gaskrieg Bevölkerungen traumatisierte, vergötterten die italienischen Futuristen den Krieg als höchste Form der Kunst, Ernst Jünger den soldatischen Körper. Zum Abbild wurde die Neue Sachlichkeit. Hinzu kam die Weiterentwicklung der Reproduktionsmedien, die angeblich nahelegen, dass Livemusik jetzt wie ihre Aufnahme zu klingen habe — so der einflussreiche Wiener Dirigierlehrer Hans Swarowsky.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, jene Zeit, die bekanntlich mit Auschwitz endete und mit der “Stunde Null” begann, war nicht nur die Konzeptkunst als leere Schale für alle Ideologien des Kapitalismus zur Stelle, sondern auch das serielle Komponieren aus Darmstadt (das auf einer falschen Rezeption der Zweiten Wiener Schule beruht) — und die endgültige Durchsetzung der Warenförmigkeit von Kultur. Adorno, der 1926 noch die Interpretation von Musik vor ihrer Verwandlung in Photographie retten wollte (Benjamin verstand er nicht), schrieb dreissig Jahre später über Karajan vom “Dirigenten des Wirtschaftswunders” (und der Mischpulte), vom Musizieren wie ein gut geölter Verbrennungsmotor aus Kornwestheim also. Fast nichts und niemand aus der Vorkriegstradition war übrig. Mir fallen nur Hanns Eisler und der Geiger Rudolf Kolisch ein, der noch spät vom “Wiener Espressivo” spricht, und eine Flaschenpost von Friedrich Gulda.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wären Minimal Music und Techno die einzigen nachvollziehbaren Antworten auf den beschriebenen Exodus/Traditionsverlust, den Niedergang der fordistischen Fliessbandproduktion und die neuen von ProduzentInnen und Effektgeräten gesteuerten Aufnahmetechnologien (von Friedrich Kittler als “Missbrauch von Heeresgerät” bezeichnet) — es sei denn man begriffe heute wieder das Potential gewollter Asynchronitäten der Welt in der Darstellung von Musik, eine Dialektik der Stimmen zueinander als etwas über die Musik selbst Hinausweisendes, als Befreiung vom Gleichschritt, wo wir als Hörende einen Ort für eigene Gedanken und Gefühle wiedererlangen: am erstaunlichen Erleben des Gebens und Stehlens.

Mit Dank an Helmut Menzler.

https://www.paranoia-tv.com/en/program/content/198-episode-eislers-friendliness

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